Sozialen Wohnungsbau für Menschen mit Behinderung oder Assistenzbedarf gibt es schon lange. Dieser orientiert sich aber bisher in erster Linie an besonderen Normen und standardisierten Verfahren. Bei diesen „Bauten von der Stange“ bleiben die individuellen Bedürfnisse und spezifischen Anforderungen der Bewohnerinnen und Bewohner weitgehend auf der Strecke. Dabei wollen auch Menschen mit Behinderung am liebsten eins: Wohnen wie alle anderen auch. Dazu, was das genau bedeutet, hat jeder und jede ganz eigene Vorstellungen – von der eigenen Wohnung alleine über die WG bis zur klassischen Wohngruppe.
Diesen Vorstellungen näher zu kommen, war Gegenstand des Modellprojekts „Wohnen selbstbestimmt“, das 2017 begann und zwei Jahre lief. In einer ersten Phase wurden mehr als 100 Menschen mit Assistenzbedarf in zwei World Cafés als Expert/-innen in eigener Sache zu ihren Wohnwünschen befragt. Sie konnten ausführlich ihre Wünsche darstellen. Auf dieser Basis wurden dann mit Hilfe der Architektenkammer NRW vier Architekturbüros beauftragt, die Machbarkeit dieser Wünsche im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus zu prüfen. Die Ergebnisse waren ermutigend: Barrierefreie und gesicherte Wohnungen sind im Neubau nur unerheblich teurer als übliche Sozialwohnungen.
Ein echtes Zuhause für mehr Eigenständigkeit
Das Gebäude in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof Hövelhof im Kreis Paderborn wirkt geräumig und hell. Das lichtdurchflutete Treppenhaus ist großzügig und mit einem Aufzug ausgestattet. In den unteren Stockwerken wohnen Menschen mit Unterstützungsbedarf, die Wohnungen in den oberen Etagen werden regulär vermietet. Im ersten Stock führt Frau Hölter strahlend durch ihre Wohnung. Wandfarbe und Interieur lassen keine Fragen offen, für welchen Fußballverein ihr Herz schlägt: Das Schwarz-Gelb von Borussia Dortmund dominiert alles. Ein im wahrsten Sinne ganz anderes Bild zeigt die Wohnung von Herrn Hengsbach, der seine Wände als ehemaliger Fotograf mit zahlreichen Kunstdrucken und Foto-Prints geschmückt hat. So individuell die Apartments eingerichtet und dekoriert sind, haben sie eins doch gemein: Ein eigenes Duschbad, eine kleine Küchenzeile und einen Balkon. Für alle Bewohner/-innen gibt es einen großen Garten mit Außenterrasse sowie Räume für gemeinsame Freizeit- und Gemeinschaftsaktivitäten, wie z. B. Kochangebote oder Hauswirtschaftstraining. Seit Mai 2023 stehen mit dem Projekt „Unterstützes Wohnen Hövelhof“ 24 dieser barrierefreien Apartments zur Verfügung, die an Menschen mit komplexen Mehrfachbehinderungen sowie Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen vermietet werden.
Wohnen wie alle anderen auch
„Der Anspruch sollte immer sein: Könnte auch ich mir vorstellen so zu wohnen und mich in einem solchen Apartment wohlzufühlen? Hier kann ich sagen: Ja.“
Rolf Wacker, Referent der Geschäftsführung, Bethel.regional, Stiftung Bethel
Aus einem Konzept werden Wohnungen
Bei allen Unterschieden zwischen den individuellen Wohnwünschen gibt es doch auch große Gemeinsamkeiten. Menschen mit Assistenzbedarf wünschen sich ein möglichst selbstbestimmtes Leben, gerne mit eigener Küche. Außerdem wollen sie gerne in Häusern wohnen, die sie mit Menschen ohne Assistenzbedarf teilen. Diese gemischte Mieterschaft verhindert, dass sie aufgrund ihrer Adresse stigmatisiert werden.
Die Stiftung Bethel hat die Ergebnisse von „Wohnen selbstbestimmt“ sehr zielstrebig in erste konkrete Wohnprojekte umgesetzt – in Hövelhof gemeinsam mit dem Spar- und Bauverein Paderborn als Bauherr und Vermieter. Trotz aller Zielstrebigkeit haben die Planungen und die Abstimmungen mit dem Bau- und dem Gesundheitsministerium, dem Landschaftsverband und vielen weiteren Partnern ihre Zeit gebraucht. Aber der Aufwand hat sich gelohnt. Die Reaktionen der neuen Mieter/-innen und ihrer Angehörigen waren durchgängig äußerst positiv.
Das Projekt ist zur Nachahmung sehr empfohlen – und wird von immer mehr Trägern in immer mehr Wohnprojekten umgesetzt. Gleichzeitig geht die Suche nach neuen, noch individuelleren Wohnformen weiter. Denn das Wohnen in Hövelhof ist für bestimmte Bewohner/-innen perfekt – andere Menschen mit Assistenzbedarf haben aber noch einmal ganz andere Bedürfnisse.
Das Modellprojekt „Wohnen selbstbestimmt“ mit seiner Forschungsbegleitung wurde von der SozialstiftungNRW ermöglicht. Neben finanziellen Mitteln von fast 700.000 Euro war auch die Vernetzung der Projektbeteiligten mit vielen Akteur/-innen in NRW ein wichtiger Beitrag zum erfolgreichen Gelingen.