Auch Gesundheitsaufklärung muss inklusiv sein

SozialstiftungNRW förderte Tools für Menschen mit geistiger Behinderung

Barfüßige Frau trägt Fatsuit und Schutzmaske, steht vor Station zur Energieeinschätzung, Barriere-Simulation zur Förderung von Inklusionsbewusstsein

Es gibt eine Menge Aufklärungsmaterial zu Drogen, Alkohol und anderen gesundheitsgefährdenden Substanzen. Doch diese Informationen sind für Menschen mit geistiger Behinderung oft unverständlich – mit negativen Folgen für deren Gesundheit. Die SozialstiftungNRW hat mit SKoL ein modellhaftes Projekt gefördert, das für Chancengleichheit bei der Suchtmittel-Aufklärung sorgt.

„Für mich ist Alkohol nicht so gefährlich“, war Lea überzeugt. Sie habe zwar gelesen, dass Alkohol vor allem beim Autofahren riskant sein kann oder dass im Rausch in der Disco ein Kontrollverlust droht. „Aber ich gehe nicht in die Disco und habe auch keinen Führerschein“, stellte Lea (Name geändert) fest, die in einer betreuten Wohngemeinschaft lebt. Die alkoholischen Getränke, die sie regelmäßig an den Wochenenden konsumiere, seien deshalb für sie unbedenklich, war sich die 31jährige sicher.

Diakonisches Werk im Kirchenkreis Recklinghausen gGmbH
Diakonisches Werk Rheinland-Westfalen-Lippe e.V.
Modell
2020
674.300€

Aufklärungsmaterial geht oft an der Lebensrealität vorbei

Lea ist ein Beispiel dafür, warum Aufklärungsmaterial zum Substanzmittelkonsum oft völlig an der Lebensrealität von Menschen mit geistiger Behinderung vorbeigeht. „Die Informationen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Beispiel richten sich an Menschen, die in die Disco gehen, Fahrrad oder Auto fahren“, sagt Dr. Stefanie Frings, Referentin für Teilhabe und Inklusion beim Diakonischen Werk im Kirchenkreis Recklinghausen. „Aber das tun viele Menschen mit Behinderung gar nicht.“ In der Folge seien ihnen die Gefahren nicht bewusst. Mit dem Projekt SKoL (Substanzmittel Kompetenz TooLbox) entwickelte das Diakonische Werk im Kirchenkreis Recklinghausen deshalb erstmals einen Werkzeugkoffer und eine App, die speziell an die Bedürfnisse von Menschen mit geistiger Behinderung angepasst sind und mit ihnen zusammen entwickelt wurden. Die SozialstiftungNRW förderte das Anfang 2024 abgeschlossene Projekt mit rund 674.000 Euro.

„Wir wollten mit SKoL Chancengerechtigkeit herstellen, damit auch Menschen mit geistiger Behinderung informiert und selbstbestimmt über ihren Konsum entscheiden können“, erklärt Frings. Damit erfüllt SKoL die Anforderungen des 2023 vollständig in Kraft getretenen Bundesteilhabegesetzes, das Menschen mit Behinderung einen selbstbestimmten Lebensstil zusichert. In diesem Sinne sei Ziel des Projektes nicht gewesen, den Menschen Vorschriften zu machen, betont Frings. „SKoL versucht vielmehr Menschen mit geistiger Behinderung Informationen in ihrer Lebenswelt zur Verfügung zu stellen, damit sie eine Grundlage für selbstbestimmte Entscheidungen haben.“ 

Energy-Drinks sind ein Riesenthema in den Werkstätten

Studien belegen, dass es beispielsweise beim Konsum von Tabak und Alkohol im Vergleich zur Gesamtbevölkerung keine gravierenden Unterschiede gibt. Neben Informationen über diese beiden häufig konsumierten Substanzen beschäftigt sich SKoL auch mit Energy-Drinks – ein Thema, das in herkömmlichen Aufklärungsmaterialien keine Rolle spielt. „Aber in unseren Werkstätten sind Energy-Drinks ein Riesenthema“, beobachtet Cosima Nellen, Mitarbeiterin im Referat für Teilhabe und Inklusion. Viele Werkstattbeschäftigte gewöhnten sich so sehr an die koffeinhaltigen Getränke, dass sie eine ständige Zufuhr brauchten, um konzentriert zu bleiben. Hier sei Aufklärung besonders wichtig, weil die stark zuckerhaltigen Getränke oftmals den Eindruck erweckten, gesund zu sein. Er habe geglaubt, die süßen Energy-Drinks seien gut für ihn, sagt zum Beispiel der 19jährige Philip. „Auf der Dose waren Früchte.“

Dank SKoL wissen Philip und seine Kolleginnen und Kollegen nun, welche Folgen der übermäßige Konsum der hochkalorischen Energy-Drinks haben kann - nämlich unter anderem Übergewicht. Um zu verdeutlichen, wie sich die Gewichtszunahme auswirken kann, umfasst die SKoL-Toolbox zum Beispiel einen Fatsuit – ein Anzug, in den Gewichte eingenäht wurden. Den zogen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Projekts an. „Und dann fiel es ihnen schnell auf, wie anstrengend Alltagsbewegungen wie Treppensteigen werden, wenn man mehr wiegt“, sagt Nellen. Einen Aha-Effekt bewirkte auch eine Rauschbrille, die das Gefühl simuliert, betrunken zu sein. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten sich dann dabei filmen lassen, wie sie mit Rauschbrille versuchten, einen Parcours zu bewältigen. „Echt peinlich“, meinten viele, für die der simulierte Rausch ein eindrückliches Erlebnis gewesen sei, berichtet Nellen. Die Toolbox vermittelt aber zum Beispiel auch über Informationsblätter und Quizfragen ein umfangreiches Wissen über die Suchtmittel, Handlungsalternativen zum Konsum oder auch Hilfsangebote im Fall einer Abhängigkeit.

Verbessertes Gesundheitsbewusstsein mit Hilfe von „Skolli“

Damit sich Menschen mit geistiger Behinderung aber auch eigenständig informieren können, wurde im Rahmen des Projekts eine App entwickelt. Sie ist kostenlos auf iOS- und Android-basierten Geräten verfügbar und funktioniert ähnlich wie ein Spiel. Der Avatar „Skolli“ begleitet die Nutzerinnen und Nutzer durch eine virtuelle Schatzsuche. Wenn sie Aufgaben auf den drei „Inseln“ Nikotin, Energy-Drinks und Alkohol lösen, können sie Münzen und Schlüssel sammeln, mit denen virtuelle Waren gekauft und Schatztruhen geöffnet werden können. Die Nutzerinnen und Nutzer können sich die Anleitungen und Informationen auch über eine Sprachausgabe vorlesen lassen.

Barfüßige Frau trägt Fatsuit und Schutzmaske, steht vor Station zur Energieeinschätzung, Barriere-Simulation zur Förderung von Inklusionsbewusstsein

Bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern kam das SKoL-Projekt gut an. Im Fall der Energy-Drinks gaben zum Beispiel 85 Prozent an, durch die Toolbox etwas dazugelernt zu haben, wie die wissenschaftliche Begleitstudie der Hochschule Fulda ergab. Damit hat das Projekt sein Ziel erreicht, Menschen mit geistiger Behinderung bessere Informationsmöglichkeiten zum Thema Suchtmittel zu bieten. Es sei hingegen nicht darum gegangen, Menschen zu bevormunden, betont Nellen. So gebe es durchaus Projekt-Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die zum Beispiel weiterhin rauchen wollten, auch wenn sie nun um die Gesundheitsgefahren wüssten. – Eine Entscheidung, die auch viele nicht behinderte Raucher so treffen. Allerdings verbessert SKoL nachweislich das Gesundheitsbewusstsein. Das zeigte sich zum Beispiel daran, dass mehr als die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich entschlossen, künftig weniger Energy-Drinks zu konsumieren.