Dr. med. Marianne Kloke, ehemalige Direktorin der Klinik für Palliativmedizin in Essen, erinnert sich noch genau, wie sie und ihre Mitstreiter/-innen sich sagten: „Wir müssen etwas ändern.“ Ihr lag das Thema wie vielen Kolleginnen und Kollegen schon lange am Herzen. Bei einem Fachtag des Netzwerks Palliativmedizin Essen (npe) 2016 führte ihr ein Vortrag von Frau Dr. Giebel zur „Spiritual Care – ein neues Angebot im Krankenhaus?“ noch einmal vor Augen, wie eindeutig die Studienlage zu diesem Thema ist. Das war der Auslöser für die Gründung von „SpECI“.
Ein Wunsch von Patientinnen, Patienten und Fachkräften
Wer in der Pflege arbeitet, kennt es aus dem Alltag: Wenn eine schwere Erkrankung das eigene Leben bedroht oder sich klar abzeichnet, dass der eigene Tod naht, kommen bei den Menschen die existenziellen Fragen auf. Was passiert nach dem Tod? War das Leben sinnvoll? Deswegen wünschen sich Patientinnen und Patienten neben einer medizinischen und psychischen Begleitung auch soziale und spirituelle Unterstützung durch die Pflegenden, Ärzte und Ärztinnen. Untersuchungen zeigen, dass dieser Wunsch auf offene Ohren stößt. Die Fachkräfte in Kliniken und Pflegeeinrichtungen, Hospizen und Palliativstationen würden sich gerne auch um die spirituellen und existenziellen Bedürfnisse ihrer Patientinnen und Patienten kümmern. Allerdings fühlen sie sich oft überfordert, weil ihnen die Kompetenzen fehlen. In der Ausbildung wird dieses Themenfeld nicht abgedeckt. Oft fehlen die strukturellen und organisatorischen Voraussetzungen, die Zuständigkeit ist nicht klar. Außerdem spiegeln die Abrechnungs- und Qualitätssicherungs-Systeme eine spirituelle Begleitung nicht wider.
Von der Idee zu einem echten Curriculum
„Wir leben in einer Gesellschaft der Singularitäten, Spiritualität ist ein Privat-Ding geworden. Aber wenn ein Mensch in eine Lebenskrise gerät, fragt er sich noch immer unverändert: Wieso?“
Dr. med. Marianne Kloke, Senior-Beraterin und Mit-Initiatorin „SpECI“
Nach intensiver Projektvorbereitung begann 2019 die konkrete Arbeit. Unterstützt von Diakonie und Caritas sowie vielen ehrenamtlich Engagierten entstand das von der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin zertifizierte „Curriculum Spiritual/Existential Care interprofessionell (SpECi)“, das als Pilotprojekt an sieben Standorten durchgeführt wurde – gefördert von der SozialstiftungNRW und flankiert durch eine wissenschaftliche Begleitstudie der Uni Witten-Herdecke.
SpECi richtet sich an haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende in Krankenhäusern, in Einrichtungen der stationären Altenpflege, Hospizen und Palliativstationen. Die 40-stündige Qualifizierungsmaßnahme will die Sensibilisierung für existenzielle und spirituelle Fragen im Kontext von Krankheit und Sterben stärken, die Kommunikations- und Handlungsfähigkeit in diesem Feld fördern. Dabei baut SpECi auf vorhandene Kompetenzen der pflegerischen, ärztlichen, therapeutischen und hospizlichen, insbesondere der palliativen Versorgung auf und vertieft sie. Wichtig: Spiritualität wird nicht rein religiös, sondern weltanschauungsübergreifend betrachtet.
Innerhalb des Pilotprojekts haben ca. 85 Mitarbeitende aus Einrichtungen, Pflegestationen und Krankenhäusern SpECi durchlaufen. Die Nachfrage ist groß, bestätigt Dr. Eva Reumkens, kommissarische Leiterin der Klinik für Palliativmedizin in Essen. Am liebsten hätten sieben Leute aus der Abteilung parallel teilgenommen. Auch wenn das nicht sofort möglich war – es zeigt, wie groß die Motivation ist.
„In diesem Curriculum lernt man ja auch etwas über sich selber und für sich selber, das dann hilfreich ist im Umgang mit den Patientinnen und Patienten.“
Dr. med. Eva Reumkens, kommissarische Leiterin Klinik für Palliativmedizin Essen
Wachsende Kompetenz bringt steigendes Wohlbefinden
Dass der Ansatz fruchtet, lässt sich dank der wissenschaftlichen Begleitstudie fundiert belegen. Denn die von Schulungsteilnehmenden betreuten Menschen und ihre Angehörigen wurden im Rahmen des Projekts zu ihren spirituellen Bedürfnissen sowie zu ihrem spirituellen und generellen Wohlfinden befragt. Bei den SpECi-geschulten Mitarbeitenden wurden parallel die Auswirkungen der Spiritual Care-Kompetenzen auf ihre Arbeitszufriedenheit erhoben. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Beachtung der spirituellen Dimension führt zu einer signifikanten Steigerung der Betreuungszufriedenheit bei Patientinnen und Patienten sowie zu einer höheren Arbeitsplatzzufriedenheit bei Pflegenden und Behandelnden. Beide Gruppen wirken zudem als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren für Spiritual Care in ihre Einrichtungen hinein.
„Spiritualität setzt auf allen Seiten viel Vertrauen und die Bereitschaft sich zu öffnen voraus.“
Dr. med. Eva Reumkens, kommissarische Leiterin Klinik für Palliativmedizin Essen
Von hier aus weiter
Das Projektziel wurde erreicht: Das Curriculum wurde entwickelt und zertifiziert, eine S1-Leitlinie mit Handlungsempfehlungen entwickelt. Ein umfassendes Handbuch erscheint 2024. Doch die Arbeit geht weiter. Die Beteiligten engagieren sich mit aller Kraft dafür, dass die spirituellen Bedürfnisse zukünftig nicht nur optional, sondern grundsätzlich und nachhaltig in allen Bereichen des Gesundheitssystems Berücksichtigung finden.
Frau Dr. Kloke kündigt bereits Nachfolgeprojekte an. Für sie geht es darum, die Bekanntheit des neuen Care-Angebots zu steigern. Betroffene und Angehörige sollen dazu ermuntert werden, eine Begleitung nach den Prinzipien von SpECi für sich zu nutzen. Ihr Ziel ist es, das Label als Expertenstandard in der Pflege zu etablieren und die weitere Forschung zu den Effekten voranzutreiben.
Das Modellprojekt wurde von der Stiftung Wohlfahrtspflege NRW, der Diakonie Rheinland Westfalen Lippe und der Friede Springer Stiftung gefördert. Projektträger sind die Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM) und für die Begleitforschung als gleichberechtigter Partner die Professur für Lebensqualität, Spiritualität und Coping der Universität Witten/Herdecke von Professor Dr. Arndt Büssing. Die Zuwendung der Sozialstiftung NRW belief sich auf 404.600 Euro.
„Spiritual Care muss aus dem Zufall genommen werden – ob da zufällig jemand ist, der sich das traut, der das kann, der das will.“