Bildungsfachkräfte sorgen für mehr Inklusion im Hochschulalltag

Das Projekt „Inklusive Bildung NRW“ ermöglichte es Menschen mit geistiger Beeinträchtigung sich zu Hochschullehrern zu qualifizieren. Luca Prachthäuser ist einer von Ihnen und die SozialstiftungNRW durfte ihn einen Tag begleiten.

Pinnwand mit bunten Notizzetteln und QR-Codes zum Thema äußere Haltung in der pädagogischen Arbeit.

Wie Menschen mit geistiger Beeinträchtigung zu Hochschullehrern wurden

Projekt „Inklusive Bildung NRW“ konnte mit Hilfe der SozialstiftungNRW verwirklicht werden

Wenn es um Belange von Menschen mit Beeinträchtigung geht, so sprechen meist Nicht-Betroffene für sie. Um das zu ändern, unterrichten seit rund zwei Jahren Menschen mit geistiger oder Mehrfach-Behinderung aus NRW Studierende in Sachen Inklusion. Möglich gemacht hat das unter anderem die SozialstiftungNRW, die die dreijährige Qualifizierung dieser Bildungsfachkräfte mitfinanzierte.

„Ich habe schon 30 Seminare gegeben. Und das ist der Hammer“, freut sich Luca Prachthäuser. Der 26jährige lenkt seinen elektrischen Rollstuhl zügig durch die Gänge des Campus-Gebäudes Südstadt der TH Köln. Sein Ziel: Eine weitere Sitzung des 15-teiligen Seminars, das er gemeinsam mit vier Kolleginnen leitet. Der 26jährige ist eine von sechs Bildungsfachkräften, die nach einer dreijährigen Ausbildung Studierende zum Thema Inklusion unterrichten und beraten. Angestellt sind sie im Arbeitsbereich „EiN* Ort für inklusives Wissen“ der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der TH Köln. 

Institut für Inklusive Bildung Nordrhein-Westfalen gGmbH
Anschub
2018
330.000€

Menschen mit Beeinträchtigung unterrichten als Inklusions-Experten

Die erfolgreiche Arbeit der Bildungsfachkräfte ist das Ergebnis eines Projekts, das die SozialstiftungNRW mit knapp 330.000 Euro unterstützte. Im Rahmen des Vorhabens „Inklusive Bildung NRW“ waren seit 2019 erstmals in Nordrhein-Westfalen Menschen mit geistiger und teilweise auch körperlicher Beeinträchtigung zu Experten in eigener Sache ausgebildet worden. Seit August vergangenen Jahres sind die sechs Bildungsfachkräfte fest bei der TH Köln angestellt. Sie zeigen Studierenden sowie Lehr-, Fach- und Führungskräften, wie Inklusion praktisch funktionieren kann. In Seminaren in ganzer Semesterlänge, Workshops oder auch Einzelberatungen vermitteln sie die spezifischen Bedarfe und Fähigkeiten von Menschen mit Beeinträchtigung auf Augenhöhe und aus erster Hand. Unterstützt werden sie dabei von drei wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen sowie einer studentischen Hilfskraft. Dieses Koordinations-Team organisiert nicht nur die Seminare der Bildungsfachkräfte innerhalb der TH Köln, sondern auch Außeneinsätze. So waren die Inklusionsexperten bereits bei der Katholischen Hochschule NRW in Münster, der Hochschule Osnabrück, der Universität Bielefeld und der Fachhochschule Kärnten im Einsatz. Die Bildungsfachkräfte beraten nicht nur Studierende aus pädagogischen Fachrichtungen, sondern unter anderem auch angehende Architekten oder Designer. Kooperationen bestehen außerdem mit dem Landschaftsverband Rheinland und der Stadt Köln, dem Integrationsfachdienst Kleve, dem Berufskolleg Glockenspitz, dem Betreutes-Wohnen-Träger "Inklusio" und der Diakonie Michaelshoven. Seit dem Wintersemester 2022/23, nach Abschluss ihrer Qualifizierung, haben die Bildungsfachkräfte so insgesamt rund 150 Lehrveranstaltungen, Vorträge und Fortbildungen gehalten. Damit haben sie rund 1.300 Menschen erreicht.

Das aktuelle Seminar an der TH Köln richtet sich an Bachelor-Studierende der Sozialen Arbeit sowie der Kindheitspädagogik und Familienbildung. „Ich erkläre zum Beispiel, wie man Bildungsveranstaltungen barrierefreier machen kann“, sagt Luca Prachthäuser. Der 26jährige ist dabei unter anderem eine Stimme für Menschen mit Sprachbeeinträchtigung. Da er nicht sprechen kann, kommuniziert er mit Hilfe eines sogenannten Talkers. Er drückt sich aus, indem er auf einem Touchscreen bunte Symbolbilder sowie Buchstaben und Zahlen anklickt. Der Computer lässt die eingetippten Befehle dann als elektronische Männerstimme erklingen. Der Umweg über den Talker macht die Kommunikation natürlich etwas langsamer als das direkt gesprochene Wort. Doch während Luca Prachthäuser die rund 30 Studentinnen und Studenten zum Seminar begrüßt, ist es mucksmäuschenstill. Professionell gibt er anschließend das Wort weiter an seine beiden Kolleginnen Jennifer Cöllen und Jil-Marie Zilske, die das Seminar gemeinsam mit ihm leiten. Unterstützt werden die Bildungsfachkräfte dabei von Kosima Kosak und Lilly König. Sie gehören zum dreiköpfigen Koordinations-Team.

Inklusions-Beratung aus erster Hand wird gut angenommen

In dieser Sitzung geht es um den Zusammenhang zwischen Gefühlen und Körperhaltung – und darum, was der äußere Ausdruck mit Inklusion zu tun hat. Dazu machen die Seminarleiterinnen und -leiter zunächst einmal eine praktische Übung mit den Studierenden: Sie sollen Gefühle wie Wut, Freude oder Ekel mit ihrem Körper ausdrücken. Anschließend geht es an die theoretische Arbeit. An verschiedenen Tischen setzen sich die Studierenden mit den Bildungsfachkräften zusammen, um Fragen zu diskutieren. "Was hat der Körperausdruck mit Inklusion zu tun?" Ablehnung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigung zeige sich häufig an der äußeren Haltung, weiß Luca Prachthäuser aus Erfahrung. "Das tut dann weh." Die Studentinnen und Studenten notieren ihre Ideen auf gelben Zetteln. Diskriminierung finde zum Beispiel statt, wenn Menschen mit Beeinträchtigung nicht persönlich von ihrem Gegenüber angesprochen werden, sondern diese sich an die Begleitperson wenden, sagt Lara (Name geändert).

Auf dem Tisch finden die Studierenden außerdem QR-Codes, die zu Fachliteratur oder kurzen Sachfilmen zum Thema führen. Gemeinsam mit Luca Prachthäuser schauen sie sich einen Film über den Ausdruck von Emotionen in Gesichtern an. "Der ist nicht barrierefrei", kritisiert Prachthäuser. "Das ging zu schnell." "Stört Dich vielleicht auch die Musik in dem Film?", fragt Tim (Name geändert). "Ja, richtig. Die lenkt ab", bestätigt Prachthäuser.

"Die Bildungsfachkräfte vermitteln Studierenden, wie sie die Belange von Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrem späteren Berufsleben berücksichtigen können", erklärt der Vorsitzende des Stiftungsrats der SozialstiftungNRW, Marco Schmitz, MdL. "Damit fördern wir die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung und tragen langfristig und innovativ zur Umsetzung der UN-Behindertenkonvention bei." Diese schreibt die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung vor. "Das Seminar ist eine tolle Möglichkeit, die Perspektive von Menschen mit Beeinträchtigung einmal aus erster Hand kennenzulernen", bestätigt Tim.

"Dass die Studierenden unsere Hilfe gerne annehmen, macht mich glücklich", freut sich Luca Prachthäuser. Vor seiner Schulung zur Bildungsfachkraft arbeitete der junge Mann in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, wo er für die Verteilung der Post zuständig war. Die Arbeit habe ihn gelangweilt und unterfordert, sagt er. "Hier ist es viel besser. Ich bin immer beschäftigt." In den vorlesungsfreien Zeiten, bereitet er zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen die Lehrveranstaltungen und Workshops vor. Zudem gibt es immer mal wieder Einzelberatungen. So unterstützen die Bildungsfachkräfte etwa einen Studenten, der für seine Masterarbeit Erhebungen durchführen will und ein Urteil über die Verständlichkeit seiner Fragebögen für Menschen mit Beeinträchtigung braucht. "Diese Arbeit macht mir sehr viel Spaß", sagt Luca Prachthäuser. "Ich will nie wieder weg hier."

Bildungsfachkraft Clip 1
Bildungsfachkraft Clip 2
Bildungsfachkraft Clip 3