Den Alltag mit Demenz besser meistern

Eine Demenz-Erkrankung ist für Pflegende und Angehörige oft eine große Herausforderung. Mit kleinen Hilfen lässt sich diese Herausforderung besser meistern. Im innovativen Modellprojekt „Demenz Dinge“ wurden Alltagsgegenstände entwickelt, die das Leben von Menschen mit Demenz verbessern. Je nach individueller Anforderung geben die „DemenzDinge“ z. B. Orientierung im Tagesverlauf oder aktivieren mit freudigen Momenten.

Eine Frau öffnet eine aufklappbare Kette, in der eine Erinnerung an den Brunch am Sonntag um 10:30 Uhr steht

Kleine Dinge mit großer Wirkung

Irmgard Müller steht auf und drückt ihren Buzzer, als dieser anfängt zu blinken. Es erklingt eines ihrer Lieblingslieder. Beschwingt wippt die an Demenz erkrankte Frau für einige Minuten zum Takt. Ihre Lebensfreude sieht man ihr an, nur bewegt sich Irmgard Müller nicht mehr gerne. Die meiste Zeit sitzt sie gedankenverloren in ihrem Sessel. Ein Sensor misst die Zeit, in der sie unbeweglich dasitzt, und leitet das Signal an den Buzzer weiter, wenn die Ruhezeit zu lang wird. Auch wenn es nur ein kurzer Moment ist: Irmgard Müllers Körper kann jede Art von Bewegung gebrauchen.

Der Buzzer ist nur eines von vielen „DemenzDingen“, die den Lebensalltag und damit Wohlbefinden von Menschen mit Demenz verbessern. Sie dienen je nach Anforderung der Bewegung, der Beruhigung, der Konzentration, der Kommunikation oder der räumlichen und zeitlichen Orientierung. Es sind zum Teil völlig neu entwickelte Dinge, aber auch umfunktionierte Gegenstände oder Spiele, manchmal auch Services, die dem Leben von Menschen mit Demenz mehr Struktur und Halt verleihen.

Theresia-Albers-Stiftung
Caritasverband für das Bistum Essen
Modell
2018
643.400€

„Durch die Gestaltung unserer „DemenzDinge“ nehmen wir positiven Einfluss auf das Leben von Menschen mit Demenz und helfen dabei, die kleinen und großen Herausforderungen im Pflegealltag besser zu bewältigen.“

Prof. Carolin Schreiber

Bedürfnisse verstehen, Ressourcen erkennen

Die Versorgung und Betreuung von Menschen mit einer Demenz-Erkrankung erfordert viel Flexibilität und Voraussicht. Das Krankheitsbild ist sehr individuell, das Fortschreiten kaum vorauszuplanen. Oft entscheidet die persönliche Tagesform darüber, welche Unterstützung gefragt ist. Aufgrund dieser vielschichtigen Anforderungen gibt es wenig Instrumente, die spezifisch auf individuelle Situationen zugeschnitten sind. Auch ein Leitfaden, der pflegende Angehörige, ehrenamtliche Helfer/-innen sowie Pflege- und Betreuungskräfte dazu anleitet, selbst individuelle Hilfsmittel zu gestalten, fehlte bis dato.

Genau hier setzte 2017 das Modellprojekt „Demenz Dinge“ an, das die Theresia-Albers-Stiftung als Betreiberin von voll- und teilstationären Einrichtung für Ältere und Menschen mit geistiger Behinderung und chronisch psychischen Erkrankungen gestartet hat. Kompetente Partner waren die Katholischen Pflegehilfe und die Folkwang Universität der Künste in Essen.

Anders als bei anderen Lösungsansätzen standen nicht die Defizite und Probleme im Vordergrund. Die „DemenzDinge“ sollten so gestaltet werden, dass sie vorhandene Ressourcen nutzen und Potenziale entfalten können. Sie sollten nicht nur individuell gestaltet sein, sondern sich auch spontan modifizieren und variabel einsetzen lassen.

Zentrale Zielsetzung des Projekts war es, Menschen mit Demenz das Leben im eigenen Zuhause so lange und sicher, so selbstständig und angenehm wie möglich zu machen. Denn die meisten Betroffenen und ihre Angehörigen wünschen sich das Wohnen in der vertrauten Umgebung und können jede Unterstützung und Entlastung gut gebrauchen. 

Auf einer Tafel steht "Mittwoch" und zwei Uhrzeiten, neben denen Magnete sind. Auf jedem Magneten ist ein gezeichnetes Gesicht und ein Name zu lesen.


Gemeinsames Gestalten aus dem Alltag heraus

Für die Entwicklung eines „DemenzDinges“ arbeitete ein Kompetenzteam, bestehend aus Gestalterinnen und Demenzexpertinnen, mit einem betroffenen Menschen und dessen Angehörigen zusammen. Als Grundlage für die Entwicklung wurden Gewohnheiten und Tagesabläufe von Menschen mit Demenz erfasst, ihre Wünsche und Bedürfnisse, ihre Gemütslagen und Stimmungen. Es wurden Gebrauchsgegenstände und Lieblingsstücke unter die Lupe genommen sowie die Wohnsituation betrachtet. Vor allem wurde gemeinsam ausprobiert: gebastelt, gebaut, verworfen, verfeinert. So kam man dem individuellen „DemenzDing“ Schritt für Schritt näher.

Auf diese Weise entstanden neben dem Buzzer noch viele weitere „DemenzDinge“, die alle partizipativ mit einer erkrankten Person entwickelt wurden. Dabei zeigten sich nicht nur positive Effekte für diese selbst, sondern auch für die betreuenden Angehörigen. Wenn der Mensch mit Demenz sich etwa mit dem Mosaik bis zu einer Stunde allein beschäftigt, kann die pflegende Person sich einmal eine kurze Auszeit gönnen.


Eine Einladung zu eigenen Ideen

Alle Gestaltungsprozesse im Rahmen des Projekts wurden umfassend dokumentiert und ausgewertet. Bei der Analyse der Daten wurde zur Unterstützung ein Soziologe hinzugezogen. Auf Basis der Befunde entwickelte man schließlich ein multimediales Schulungskonzept, das pflegende Personen dazu befähigt, für den eigenen Pflegealltag individuelle „DemenzDinge“ zu gestalten. Die Schulungsmedien vermitteln das über die Jahre im Projekt gesammelte Wissen leicht verständlich. Alles, was es braucht, ist ein bisschen Mut, etwas Neues auszuprobieren.

So lassen sich Alltagssituationen neu betrachten und die Ressourcen, Interessen und Wünsche von Personen mit Demenz besser verstehen. Zum Schulungspaket gehören zehn Erklär-Videos, ein digitaler Demenzbegleiter und nicht zuletzt das Handbuch „Alltag mit Demenz neu gestalten“. Hierfür wurde ein Verlag gefunden, der das Buch nun herausgibt. All diese Tools ermöglichen es, die richtigen Alltagshilfen auszuwählen oder inspirieren dazu, selbst individuelle Lösungen für einen besseren Umgang mit Demenz zu entwickeln.

Die Erkenntnisse des Modellprojektes „Demenz Dinge“ wurden darüber hinaus in verschiedene relevante Bereiche auf Institutioneller, politischer oder wissenschaftlicher Ebene getragen. Vor allem wurden durch die Gestaltungsexpertinnen das Wissen bürgernah aufbereitet. Die SozialstiftungNRW unterstützte das Projekt mit einer Fördersumme von 643.400 Euro.