Aktiv mit Mehrfachbehinderung

Modellprojekt erforscht erstmals Bewegungsmöglichkeiten für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen

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Für Menschen mit mehrfachen körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen gibt es praktisch keine Sport- oder Bewegungsangebote. Das hat negative Folgen für ihre Gesundheit. Ein von der SozialstiftungNRW gefördertes Modellprojekt will das nun ändern.

Max Bauman lacht glücklich auf. Seine Unterstützerin, Julia Hilmers, hat ihm vorsichtig auf ein Balancebord geholfen, auf dem der 28jährige nun ganz leicht hin- und herschaukelt. Hilmers freut sich, dass es Max Baumann (Name geändert) so gut gelingt, die Balance zu halten. „Das ist eine neue Erfahrung für Herrn Baumann“, erklärt die Heilpädagogin. Denn normalerweise sitzt der junge Mann im Rollstuhl. Baumann, der im Josefsheim in Olsberg-Bigge wohnt, lebt mit komplexen geistigen und körperlichen Behinderungen. Verbal kann er nicht ausdrücken, welche Bewegungen er sich wünscht. So geht es vielen Menschen mit komplexen Behinderungen. Zwar hat sich das Sport- und Bewegungsangebot für Menschen mit Behinderung verbessert. So erhalten mittlerweile die Paralympischen Spiele große öffentliche Aufmerksamkeit. Doch für Menschen mit komplexen geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen gibt es bislang kaum Möglichkeiten, selbstbestimmt körperlich aktiv zu werden.

Das möchte das Modellprojekt „In Bewegung kommen – in Bewegung bleiben – Bewegungsmöglichkeiten für Menschen mit komplexer Behinderung im Alltag“ der FIBS gGmbH (Forschungsinstitut für Inklusion durch Bewegung und Sport) ändern. Seit Juni 2024 arbeiten die Josefs-Gesellschaft in Bigge im Sauerland und das Diakonische Werk im Kirchenkreis Recklinghausen als Partner an dem Projekt mit. Wissenschaftlich begleitet wird das Vorhaben während der dreijährigen Laufzeit vom Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS). Die SozialstiftungNRW fördert das Projekt mit 615.000 Euro.

Unfreiwilliger Bewegungsmangel schwächt die Gesundheit

Wie dringend notwendig die Forschung auf diesem Gebiet ist, verdeutlicht Dr. Vera Tillmann, wissenschaftliche Leiterin der FIBS gGmbH: „Der unfreiwillige Bewegungsmangel schwächt oftmals die Gesundheit von Menschen mit komplexen Behinderungen.“ Typische Beschwerden seien Gelenkprobleme, erhöhte Infektanfälligkeit oder Verspannungsschmerzen. „Für Menschen mit einer komplexen Beeinträchtigung gibt es bislang keine Ansätze, wie Bewegung Teil ihres Alltags sein kann.“

Das wollen die beiden Projektpartner nun ändern. In einem ersten Schritt haben sie mit jeweils einer Teilnehmer-Gruppe geprüft, wie viel – oder wie wenig – Bewegung die Bewohnerinnen und Bewohner ihrer Einrichtungen im Alltag tatsächlich haben. Zunächst hätten die Fachkräfte vor Ort mit den Menschen mit komplexer Beeinträchtigung Bewegungstagebücher geführt, berichtet Cosima Nellen vom Referat Teilhabe und Inklusion beim Diakonischen Werk im Kirchenkreis Recklinghausen. Dabei hätten sie dokumentiert, welche Bewegungen stattfinden, sowohl bei der Arbeit in der Werkstatt als auch in der Freizeit. „Da kam dann schon von einigen Mitarbeitenden das Feedback, es sei erschreckend, wie wenig Bewegung bei dieser Zielgruppe stattfindet.“

Betroffene bestimmen mit

Die besondere Herausforderung für die Unterstützenden ist, dass viele der Menschen mit Mehrfachbehinderung ihre Wünsche nicht verbal äußern können. „Deshalb erhoffe ich mir von dem Projekt, dass wir auch Instrumente oder Methoden an die Hand bekommen, die uns helfen, den Bewegungsdrang von Menschen besser zu erkennen,“ sagt Hilmers. Zwar gibt es auch jetzt schon Bewegungsangebote wie zum Beispiel Physiotherapie. „Aber wir möchten herausfinden, welche Angebote wir den Menschen im Alltag machen können, um dann körperlich aktiv werden zu können, wenn sie es wollen.“

Das kann nur gelingen, wenn die Betroffenen selbst mit in die Entwicklung der Angebote einbezogen werden. „Wir möchten Kreativität wecken und den Personen ermöglichen, sich selbst etwas zu wünschen, ohne dass wir als Projektleitung oder als Vermittlerin oder Multiplikatorin etwas vorschreiben“, sagt Nellen. Doch darin liegt auch die Herausforderung. Denn viele Menschen mit Mehrfachbehinderung hätten keine Vorstellung davon, wie sie sich bewegen könnten, beobachtet Nellen. „Auch deshalb, weil ihnen kommuniziert wird, dass Vieles nicht geht oder ein Gesundheitsrisiko, zum Beispiel eine Sturzgefahr, besteht.“

Die Projektpartner arbeiteten deshalb mit Fotos. Zunächst wurden die alltagstypischen Bewegungen der Menschen fotografiert und in einer anschließenden Befragung thematisiert. Dabei ging es auch um die Frage, welche Bewegungen die Menschen gerne ausführen würden. Das drückten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus, indem sie sich entsprechende Fotos aussuchten. „Das gab uns Anhaltspunkte, in welche Richtung sich das Projekt entwickeln soll“, erklärt Nellen.

Ergebnisse als Modell für die Praxis

Weitere Erkenntnisse lieferte ein Bewegungstag, den beide Projektpartner jeweils vor Ort veranstalteten. „Dort wurden in einem ersten Schritt verschiedene Bewegungsmöglichkeiten ausprobiert“, berichtet Margit Niggemeier vom Fachdienst berufliche Teilhabe der Josefsheim gGmbH. Die Balance-Wippe, die Max Baumann ausprobierte, sei besonders gut angekommen, beobachtete Niggemeier. Getestet worden seien zum Beispiel auch Schwungtücher, eine Wiege oder eine Schrägfläche als Rutsche. „Wir haben erst einmal bewusst beobachtet, wie die Menschen reagieren, um zu schauen, was wir im Alltag ausprobieren könnten“, sagt Niggemeier.

Im nächsten Schritt werten die Projektpartner die Erfahrungen aus und entwickeln daraus Bewegungsangebote. „Aktuell haben wir mit den Teilnehmenden Bewegungswünsche gesammelt, die über die nächsten Wochen umgesetzt werden sollen“, berichtet Nellen. Erprobt wird Fahrradfahren, Rutschen, Schaukeln, Schwimmen oder das Nutzen des Schwungtuchs. „Die Idee ist, eine Bewegungssammlung zusammenzustellen, die gut funktioniert, um sie in die Praxis umsetzen zu können“, sagt Nellen. Die Ergebnisse des Modellprojekts sollen nach Ende der dreijährigen Laufzeit veröffentlicht werden, damit sie auch anderen Einrichtungen zugute kommen.